Ich-Erzähler
Inhaltsverzeichnis
Kleiner literaturwissenschaftlicher Exkurs: Erzählperspektive
Die Erzählperspektive eines erzählenden Textes ist eine Antwort auf die Fragen: "Wer spricht?" und "Wo spricht und sieht dieser?"
Wesentlich für die Bestimmung einer Erzählperspektive ist, ob ein Ich-Erzähler in Erscheinung tritt. Auch wenn das nicht der Fall ist, gibt es natürlich einen Erzähler, aber es ist schwerer, ihn zu verorten. In der Literaturwissenschaft wird zwischen dem Autor und einem seiner/dem Erzähler streng unterschieden. Auch ein Erzähler, der nicht von sich selbst spricht, ist kaum in jeder Hinsicht der historische Autor. Mindestens teilweise ist er eine fiktive Gestalt, also eine Vorstellung von sich, die der Autor erfüllen will oder für sich ausgedacht hat.
Selbst Autobiografien haben einen Erzähler, der von ihrem realen Autor unterschieden werden sollte.
Nicht bloß ein Blick in dieselbe Richtung, wie es der Begriff Perspektive nahe legt, macht eine Erzählperspektive aus, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit, das die Beobachterperspektiven von Figuren, Erzählern und Publikum trennt oder verbindet.
In der Lyrik spricht man nicht vom Erzähler, sondern vom lyrischen Ich.
Der Ich-Erzähler bei Karl May
Der Ich-Erzähler in Karl Mays Texten ist manchmal Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi, manchmal auch ein namenloser Reisender und mitunter auch eine Figur, die sich durch eine eigene fiktive Biografie oder einen Namen deutlich von den bekannten Helden unterscheidet.
In den Texten lässt sich eine Entwicklung feststellen, vom namenlosen Ich-Erzähler, der nur Zuschauer und Berichterstatter ist (Der Gitano) über ein Zunehmen heldischer Fähigkeiten und Ausrüstung bis hin zu den völlig ausgestalteten Ich-Erzähler-Helden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi. Einige seiner Ich-Erzähler-Helden bleiben ohne Kriegsnamen und werden nur von Freunden und Gefährten (englischer Muttersprache) Charley genannt (Winnetou spricht dies Scharlih aus, aber auch im Fernen Osten und im Pazifik kommt die Bezeichnung vor). Nachdem Ausrüstung und Fähigkeiten (z.b. der Jagdhieb) schon lange für alle Ich-Erzähler-Helden dieselben sind, macht May in Satan und Ischariot den Schritt dahingehend, den Ich-Erzähler im Wilden Westen, im Vorderen Orient und in Deutschland auftreten zu lassen, jeweils unter den an diesen Orten gebräuchlichen (Kriegs-)Namen. So werden Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und ein gewisser Dr. Karl May in Dresden als ein und dieselbe Figur identifiziert.
Von hier war es nur ein kleiner Schritt, auf dem Höhepunkt der Bildung der sog. Old-Shatterhand-Legende, dass May behauptete (nachdem dies von der Redaktion des Hausschatz vorgegeben worden war), tatsächlich Old Shatterhand zu sein, die Abenteuer mit Winnetou tatsächlich erlebt zu haben. Damit hat er die von der Literaturtheorie postulierte Distanz zwischen Ich-Erzähler und realem Autoren-Ich stark verwischt.
Natürlich mussten die Leser eigentlich erkennen, dass diese Legende nicht der Wahrheit entsprechen konnte, vor allem als man später auch noch von Mays wirklichen Aufenthalten während seiner ersten und zweiten Vagantenzeit erfuhr (nämlich teilweise in Gefängnissen). Aber offenbar war der Wunsch vieler Leser in diesen Zeiten der "letzten Abenteuer der Menschheit" so groß, wenigstens jemand zu kennen, der diese Abenteuer alle noch selbst erlebt hatte, dass sie dem Autor diese Unwahrscheinlichkeiten abnahmen, ja teilweise mitspielten und dabei diese "Legende" mit auf die Spitze treiben halfen (wie Einträge in Mays Gästebuch und Zeitschriftenartikel begeistertet May-Leser zeigen). Ein großer Teil seiner Leser und Bewunderer glaubte auch nach seinem Tod nach an diese "Legende". May gab später die Legende als "unwahr" zu, indem er auch seine frühen Werke als nur symbolisch bezeichnete. Damit war natürlich auch diese Legende nicht mehr als "wahr" zu bezeichnen:
- Und wenn ich, wie ich mir vornahm, eine Reihe von dreißig bis vierzig Bänden schrieb, so war doch gewiß anzunehmen, daß kein vernünftiger Mann auf die Idee kommen werde, daß ein einziger Mensch das Alles erlebt haben könne. Nein! Der Vorwurf, daß ich ein Lügner und Schwindler sei, war, wenigstens für denkende Leute, vollständig ausgeschlossen! So glaubte ich damals. Ja, ich war sogar fest überzeugt, trotzdem ich mit dem "Ich" mich nicht selbst meinte, doch mit bestem Gewissen behaupten zu können, daß ich den Inhalt dieser Erzählungen selbst erlebt oder miterlebt habe, weil er ja aus meinem eigenen Leben oder doch aus meiner nächsten Nähe stammte. Ich hielt es für gar nicht schwer, sondern sogar für sehr leicht und vor allen Dingen auch für interessant, sich vorzustellen, daß Karl May diese Reiseerzählungen zwar niederschreibt, sie aber so verfaßt, als ob sie nicht aus seinem eigenen Kopfe stammen, sondern ihm von jenem imaginären "Ich", also von der großen Menschheitsfrage, diktiert worden seien. Ob diese meine Annahme richtig war, wird bald die Folge zeigen. (Mein Leben und Streben)
Der Ich-Erzähler als Menschheitsfrage – wir treten in Mays Alterswerk ein.
In Folgenden werden Details zur Entwicklung der jeweiligen Ich-Erzähler bei Karl May dargestellt, geordnet nach verschiedenen Erzähllinien.
Nicht zuzuordnende Ich-Erzähler (Frühe Werke)
Der Gitano (1875)
Der Ich-Erzähler ist im Auftrag einer deutschen Handelsfirma in Spanien, um (erfolglos) Außenstände einzutreiben. Auf dem Heimweg reist er mit einer Gruppe, zu der neben einem Maultiertreiber auch zwei Zigeuner gehören. Die Abenteuer dieser Reisegruppe im Karlistenkrieg macht der anonyme Erzähler passiv mit.
Inn-nu-woh (1875)
In der Erzählung Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling von 1875 ist der Ich-Erzähler ein Reisender und nur Zuschauer. Den berühmten Indianerhäuptling Inn-nu-woh kennt er zwar dem Namen nach, scheint also schon mit dem Wilden Westen in Kontakt gekommen zu sein. Angesichtes der Gefahr aber erstarrt er buchstäblich und die Aktion ist dem Indianer überlassen. Angesichts der Tatsache, dass diese Erzählung in Nordamerika spielt, kann der Ich-Erzähler als Frühform von Old Shatterhand betrachtet werden. Andererseits hat der spätere Old Shatterhand dieses Abenteuer nie erlebt, sondern es wurde Nintropan-homosch zugeschrieben.
Die Old-Shatterhand-Linie
Die Entwicklung des May'schen Helden vom passiven Beobachter hin zum aktiv eingreifenden Superhelden mit schier übermenschlichen Fähigkeiten und Ausrüstung erfolgt nicht linear. Das liegt zum einen wohl an Mays Schreibtechnik des Wiederverwertens älterer Geschichten oder Teile davon, andererseits wahrscheinlich auch daran, dass wir nur die Publikationsdaten kennen, Geschichten aber notorisch auch schon mal länger liegenbleiben, bis sie ein Verlag veröffentlicht, zum dritten aber vielleicht auch daran, dass May nie wirklich an einer systematisch und "wasserdicht" konstruierten Biografie "Old Shatterhands" interessiert war.
Old Firehand (1875)
In der Erzählung Old Firehand, ebenfalls von 1875, besitzt der namenlose Ich-Erzähler einen Henrystutzen und einen Indianerrappen, ein Geschenk von Winnetou. Er rettet zwar Old Firehands Tochter Ellen aus einem Feuer, ist aber keineswegs eine imponierende Persönlichkeit, der sich andere (freiwillig) unterordnen. Sein Rat wird sogar übergangen. Zum Schluss allerdings kriegt der Ich-Erzähler seine Ellen, und die beiden verlassen den Wilden Westen. Da der "ausgereifte" Old Shatterhand von Frauen nichts wissen will, wurde später aus Old Firehands Tochter Ellen ein Sohn namens Harry, auch das Alter wurde nach unten korrigiert. Doch im Gegensatz zu Leïlet geschah die Umarbeitung offenbar recht oberflächlich und flüchtig, und so sind in der Beziehung Old Shatterhand – Harry deutliche Spuren der ursprünglichen Liebesbeziehung erhalten geblieben.
Deadly dust (1880)
In Deadly dust von 1880 ist Old Shatterhand bereits ein Westmann wie er im Buche steht und besitzt einen 25-schüssigen Henrystutzen. In dieser Erzählung beschreibt Old Shatterhand sein zweites Treffen mit Winnetou, der seinen Freund erstmals Schar-lih nennt. Es werden frühere Abenteuer erwähnt. So soll Old Shatterhand einmal von einem Bären angefallen und schwer verletzt worden sein. Die Narben dienen ihm dazu, sich identifizieren zu lassen. Dies wurde so in Winnetou III übernommen, ist allerdings die einzige Erwähnung dieses Erlebnisses in der Biografie des Old Shatterhand.
Die Both Shatters (1882)
1882 erschienen, aber möglicherweise bereits 1876 geschrieben, ist die Erzählung Die Both Shatters, in welcher ein namenloser Ich-Erzähler schon recht aktiv und geschickt eingreift, auch über einen ihm von Winnetou geschenkten Rappen verfügt, der hier Swallow heißt. Der Henrystutzen kommt ebenfalls vor, stammt aber von einem gewissen Jake Hawkins.
Ein Ölbrand (1883)
In Ein Oelbrand, veröffentlicht 1883, macht Old Shatterhand gewissermaßen Rückschritte: Er stümpert mächtig herum und überlebt mit knapper Not den Brand eines Öltales (Bluffs).
Unter der Windhose (1886)
1886 erscheint in Unter der Windhose ein Ich-Erzähler, der sich selbst Selki-latah (Tötende Hand) nennt, und von sich aussagt, ein erfahrener Westläufer zu sein; die Anzeichen für einen Tornado erkennt er jedoch nicht.
Der Scout (1888)
Der Ich-Erzähler in Der Scout von 1888 ist wieder ein völliges Greenhorn, erstmals im Wilden Westen und lässt sich sogar von einem Pferd abwerfen. Er lernt Winnetou kennen und bekommt von Old Death eine improvisierte Ausbildung zum Westmann. Trotz guter Anlagen bleibt er aber ein Reisender. Für die Einarbeitung in Winnetou II verstellt sich Old Shatterhand bloß. Allerdings sieht man auch noch starke Spuren der ursprünglichen Figur in Old Shatterhand.
Die Kara-Ben-Nemsi-Linie
Die Figur Kara Ben Nemsi taucht namentlich erstmals 1880 im Werk Mays auf, in den Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche Giölgeda Padishanün. Es lassen sich aber zwei Vorläufer ausmachen: der noch namenlose Ich-Erzähler in der Erzählung Die Gum, die 1878 in der Zeitschrift Frohe Stunden erschien, und der Erzähler der 1876/1877 veröffentlichten Novelle Leïlet.
Leïlet (1876)
Die frühe Erzählung Leïlet hat May später zu der Senitza-Episode des Padishanün-Romans umgearbeitet. Der Ich-Erzähler ist hier Arzt; als Kapitän-Effendi reist er auf Befehl seines Königs. Er besitzt einen Schutzpass. Der Protagonist in Leïlet hat wie Kara Ben Nemsi beste Kenntnisse von Land und Leuten erworben und spielt auf vorangegangene Abenteuer an, die dem Leser nicht bekannt sind – ein Erzähltrick, der die Anwesenheit und mehr noch die Souveränität im Auftreten des Helden im Orient erklären soll. Im Gegensatz zu Kara Ben Nemsi, der Frauen gegenüber zurückhaltend, ja skeptisch reagiert und nur als selbstloser, uninteressierter Dritter handelt, aber verliebt sich der Ich-Erzähler von Leïlet in die zu Rettende – nur um am Schluss erkennen zu müssen, dass sie schon lange einen andern Franken liebt: seinen Bruder Bernhardt.
Die Gum (1878)
In Die Gum ist der als Franke bezeichnete Erzähler mit einem Bärentöter und einem 25-schüssigen Henrystutzen bewaffnet. Mit seinem einheimischen Diener Mahmud el Kebihr durchquert er die Sahara, erlegt einen Löwen und entlarvt Ibn Suleiman, den Schech el dschemali einer Karawane, als Verbündeten von Wüstenräubern. Im Gegensatz zu Kara Ben Nemsi reagiert er selbst sofort auf die Bezeichnung Giaur mit einem Peitschenhieb ins Gesicht des Beleidigers; er tötet den Verräter auch ohne Zögern durch einen Messerstich. In der Hausschatz- und Buchfassung der Erzählung ändert sich daran nichts, der Held wird dort jedoch ausdrücklich als Deutscher bezeichnet. Darüber hinaus wird die Identität Kara Ben Nemsi–Old Shatterhand hier durch eine Verabredung des Helden mit Emery Bothwell und durch den berühmten Jagdhieb des Westmanns klargestellt.
Jenes imaginäre "Ich" – die große Menschheitsfrage
Im seinen späten Jahren behauptete May, sein ganzes Werk sei symbolisch zu verstehen und sein Ich-Erzähler sei eben nicht der reale Karl May, sondern "imaginär" – sprich ein Symbol, und zwar für die große Menschheitsfrage (vgl. obiges Zitat aus Mein Leben und Streben).
Literatur
- Hermann Wiegmann: Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays. In: Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer (Hrsg.): Karl Mays Orientzyklus. Karl-May-Studien. (Onlinefassung)
- Eintrag in der Sekundärliteraturübersicht der KMG.
Informationen zu Figuren in Karl Mays Werken finden Sie auch im Karl May Figurenlexikon.
Die zweite Auflage dieses Werkes finden Sie online auf den Seiten der KMG.
Weblinks
- Eintrag Erzählperspektive bei Wikipedia.
- Eintrag Ich-Erzähler bei Wikipedia (u. a. zum typologischen Modell der Erzählsituation nach Franz Karl Stanzel).