O komm, sei wieder Gast auf Erden (Gedicht)

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O komm, sei wieder Gast auf Erden ist ein Gedicht von Karl May.

Text

"O komm, sei wieder Gast auf Erden,
Du gottgesandter Menschheits-Christ.
Dein Stern soll nie zur Flamme werden,
Die das verzehrt, was heilig ist.
Wohl mögen Könige und Weise
Sich dir mit Gold und Weihrauch nahn,
Du aber hast dich nur dem Kreise
Der armen Hirten kundgetan.
Der Habsucht sei das Gold beschieden,
Der Weihrauch dem, der Weihrauch liebt,
Uns Armen aber gib den Frieden,
Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!"[1]

Textgeschichte

in Und Friede auf Erden!

Das Gedicht findet sich in der Reiseerzählung Und Friede auf Erden!, die zu Karl Mays Spätwerk gehört, und zwar im 4. und im 5. Kapitel, Wahnsinn und Der Shen-Ta-Shi. Der Ich-Erzähler übersetzt damit das Poem des Malaienpriesters:

"Ich hatte Besuch, ganz unerwarteten Besuch. John weiß es schon. Dem habe ich es mitgeteilt. Ihr Andern würdet es nicht erraten. Darum will ich es lieber gleich sagen. Nämlich der malajische Bote war bei mir, welcher die Betelnuß nach dem Hotel Rosenberg brachte und dann auch mit der Sänfte wiederkam. Er hat mir einen Brief von meinem guten Freunde, dem Heidenpriester gebracht und ist dann gleich wieder fortgegangen, ohne zu fragen, ob er Antwort mitnehmen soll."
"Was hat der Freund geschrieben?" erkundigte ich mich, weil keiner der Andern Etwas sagte.
"Das weiß ich noch nicht ganz genau, doch hoffe ich, es hier zu erfahren. Der Brief ist malajisch geschrieben, und in Beziehung auf diese Sprache bin ich Analphabet. Darum ging ich mit ihm zu John. Der hat herausgebracht, daß von unserm Christus die Rede ist, von Gold, von Weihrauch, von armen Hirten und von dem Frieden, den die Engel auf den Fluren von Bethlehem verkündet haben. Aber wirklich fließend konnte er die Zeilen auch nicht lesen. Es sind Worte und Wendungen darin, welche er nicht kennt. Sonderbarerweise ist der Brief nicht Prosa, sondern ein Gedicht. Denkt Euch, ein malajischer Heidenpriester, welcher dichtet! Ist das nicht fast unbegreiflich?"
"Warum unbegreiflich? Gibt es nicht auch christliche Priester, welche Dichter sind? Der Priesterstand meint doch wohl, Gott am allernächsten zu stehen, und die Poesie ist göttlicher Natur. Die Kunst, die wahre, wirkliche Kunst, ist die edle Schwester des Glaubens. Aus welchem Grunde sollte diese Schwester grad die bevorzugten Jünger ihres Bruders mit Verachtung von sich stoßen?"
"So habe ich es nicht gemeint, sondern anders!" entschuldigte sich der Uncle.
"Anders?" lächelte der Chinese. "So habt Ihr also nicht den Priester, sondern den Heiden betont wissen wollen? Klingt das vielleicht freundlicher, besser? Was würde wohl die 'Shen' hierzu sagen, Mylord? Also, daß ein Heide Dichter sein könne, ist Euch unbegreiflich? Denkt doch einmal an Eure alten Griechen, die für Euch noch jetzt die allerhöchsten Ideale sind und Euer ganzes, geistiges Leben in einer Weise beeinflussen, welche man vom christlichen Standpunkte aus doch eigentlich zu beklagen hätte? Wem anders als diesen alten, heidnischen Griechen hat Euer England es zu verdanken, daß es den größten aller späteren Dramatiker besitzt? Wird nicht die Sprache, die Philosophie, die Geschichte dieser Heiden in allen Euern höheren Schulen derart begünstigt, daß Eure Gymnasiasten und Studenten fast alle der Meinung sind, wer nicht Griechisch und Latein getrieben habe, dürfe sich nicht zu den gebildeten Menschen rechnen? Selbst Eure Prediger und Priester müssen diese heidnischen Sprachen verstehen und diese heidnischen Dichter studiert haben, sonst würden sie keine christliche Kanzel und keinen christlichen Altar betreten dürfen! Wie sonderbar klingt das zu dem, was Ihr ›fast unbegreiflich‹ nennt! Ich bitte Euch, Sir, öffnet doch die Augen! Ich habe mich sowohl bei den Christen als auch bei den Heiden umgesehen, und zwar bei beiden mit offenen, freundlichen, vorurteilslosen Augen. Hätte der Himmel mir die Gabe verliehen, das beschreiben und veröffentlichen zu können, was ich da beobachtet habe, so würde ich zwei Bücher schreiben, nichts weiter, denn das wäre genug. Das eine Buch würde betitelt sein: 'Das Heidnische im Christentume' und das andere: 'Das Christliche im Heidentume'. Ihr habt, da wir von malajischen Dichtern sprachen, wahrscheinlich keine Ahnung, wie nahe verwandt und wie oft sogar ebenbürtig sie Euern christlichen Dichtern sind. Man staunt zuweilen über diese Gleichheit des geistigen Pulsschlages. Und was besonders den Mann betrifft, von welchem hier die Rede ist, so muß – – – ah, daß ich mich unterbreche, wißt Ihr denn nicht, daß er noch etwas ganz Anderes ist, als bloß nur Oberpriester seiner Malaien?"
"Nein," antwortete der Uncle.
"Hat er es Euch nicht gesagt, nicht wenigstens angedeutet?"
"Nein, mit keinem Worte."
"So! Wie mich das freut! Das ist die wahrhaft königliche Bescheidenheit der wahren Menschengröße! Hätte er wohl ebenso geschwiegen, wenn er ein Europäer gewesen wäre? Er ist nämlich der anerkannt größte der gegenwärtigen malajischen Dichter, eine Berühmtheit, soweit die malajischen, chinesischen und indischen Zungen klingen. Grad darum war er es, der von meinem Vater auserwählt wurde, zu uns zu kommen, um unsere 'Shen' zu studieren. Er war der beste und der passendste Mann dazu im ganzen indischen und polynesischen Archipel. Ich bin stolz, ja stolz darauf, daß dieser Mann mich achtet. Der Segen, den er auf das Haupt unserer Freundin Mary legte, war nicht der Segen eines gewöhnlichen Menschen, sondern eines Auserwählten, der nicht bloß leere Worte spendet, sondern wirklich das besitzt, was er geben will, wenn er segnet! Und hat er Euch ein Gedicht geschickt, so ist das sicher keine gering zu achtende Gabe. Er tut das nicht, um Euch nachträglich doch noch zu zeigen, wer und was er ist, sondern aus höheren, reineren Gründen. Er hat über Euch nachgedacht und über Alles, worüber er mit Euch sprach. Wahrscheinlich gibt er Euch nun das Resultat dieses seines Nachdenkens, und wenn Ihr es wünscht, so bin ich gern bereit, es Euch zu übersetzen."
"Aber natürlich wünschen wir das!" rief der Uncle begeistert aus. "Also ein Dichter, ein großer, ein berühmter Mann ist dieser mein guter Freund, der Heidenpriester! Das wundert mich eigentlich nicht, denn das lag mir schon gleich in den Gliedern; es wird mir nur jetzt erst klar. Hier ist der Brief. Bitte, ihn uns vorzulesen!"
Er gab ihn dem Chinesen hin. Dieser las ihn erst still für sich durch, nickte dann langsam und wiederholt mit dem Kopfe und sagte, indem er lächelnd zu uns herüberschaute:
"Es ist so, wie ich dachte: Eine Dichtergabe. An Inhalt reich und an Gedanken schwer. Ein abschließender Strich unter das, was er hier bei Euch erlebte, und dann die Summe, das geistige Resultat, in großen, runden Ziffern. Wie jammerschade, daß ich kein Dichter bin! Die Wiedergabe in Prosa zerstört ganz unbedingt den Wert und ebenso die Wirkung. Gäbe es doch Einen unter uns, der wenigstens Reime machen könnte, so wäre, wenn auch nicht Alles, so doch die dichterische Form gerettet!"
Da blinzelte Raffley mir von der Seite her mit den Augen zu und sagte:
"Wie steht es mit Euch, lieber Charley? In Euern deutschen Schulen wird ja schon in den untersten Klassen Unterricht über Literatur, Dichtkunst und jede Art von Versfabrikation gegeben. Auch habt Ihr schon einmal ein Buch über Astronomie verbrochen. Zwar gibt mir das noch keine Veranlassung, Euch selbst für einen Stern zu halten, aber vielleicht steht es Euch aus Eurer Jugendzeit noch in Erinnerung, wie man die Worte zu wenden und zu drehen hat, um einen Reim fertig zu bringen?"
"Hm!" brummte ich nachdenklich. "Ich habe allerdings schon als Junge gereimt, nämlich zu Vaters oder Mutters Geburtstag und zum neuen Jahre; aber es war auch danach! Dann später baute ich an einer großen, gewaltigen Ballade. Die hieß 'Der Saïstempel' und ist mir über alles Erwarten gut gelungen, denn sie fiel noch viel, viel dunkler aus, als die ganze Saïsgeschichte an und für sich schon ist. Und wenn ich mir Mühe gebe, so ist es mir vielleicht möglich, aus dieser allgemeinen Finsternis einige Reime für heut zu retten."
"Gut, schön, vortrefflich!" lachte da Tsi. "Versuchen wir es! Es ist eine Versündigung an dem Dichter, seine Gedanken in nüchterne, empfindungslose Worte zu kleiden. Suchen wir also nach einem poetischen Gewande. Finden wir es nicht, so haben wir wenigstens unsere Schuldigkeit getan. Ich werde die Uebersetzung wörtlich zu Papier bringen. Sehen Sie dann, was Sie daraus fertig bringen; aber bitte, deutsch, weil dies Ihre Muttersprache ist, die wir ja alle kennen. In der Muttersprache ist eine solche Aufgabe nicht halb so schwer wie in jeder anderen."
"Das ist richtig!" stimmte Raffley bei. "Und während hier die Uebersetzung gemacht wird, laufe ich hinüber zum Mijnheer. Da liegt ein Buch, welches 'Nieuw Hollandsch-Maleisch, Maleisch-Hollandsch Woordenboek' heißt. Das hole ich herüber, um Charley damit zu unterstützen."
Er stand auf, um wirklich zu gehen.
"Bitte, sitzenbleiben!" bat ich ihn. "Dieses Woordenboek würde mich nur irre machen. Ich verzichte also darauf."
Das Gedicht war kurz und Tsi also rasch fertig. Ich nahm beides, Original und Uebersetzung, und ging damit nach meinem Zimmer, um ungestört zu sein. Tsi durfte meine eigentliche, deutsche Handschrift nicht sehen, weil sonst der Dichter von 'Tragt Euer Evangelium hinaus' sofort verraten gewesen wäre. Ich wählte also eine recht schlechte, abgenutzte Feder und schrieb einen sehr hohen, von links nach rechts hinüberliegenden, lateinischen Duktus. Es gelang. Als ich wieder hinüber kam, gab ich es Tsi. Er las, wieder erst nur für sich allein. Dann warf er einen langen, nachdenklichen Blick zu mir herüber, sagte aber nichts und las die zwölf Zeilen hierauf zum zweiten Male durch.
"Nun?" fragte der Governor. "Wohl schlimme Reimerei, die wir nicht gebrauchen können? Bitte, doch vorzulesen!"
"Sonderbar, höchst sonderbar!" sagte Tsi so vor sich hin. "Es liegt hier Etwas vor, was ich nicht begreifen kann; ich hoffe aber, es doch noch zu erfassen."
Und nun las er vor, langsam, laut und mit der erforderlichen Betonung:
  "O komm, sei wieder Gast auf Erden, [...]
Als er geendet hatte, schob er das Blatt vor sich hin auf den Tisch, faltete die Hände, legte sie darauf, schaute über uns hinweg, wie in weite Fernen, und sprach:
"Das, das ist es, was der Dichter, der zugleich auch Priester ist, hat sagen wollen! Gibt es Einen unter uns, der irgend Etwas hinzuzufügen oder irgend Etwas hinwegzustreichen hat? Wenn uns kein irdischer Herrscher und keine irdische Weisheit den Frieden gewährt, den der Himmel uns verkündete, so kann nur Der allein uns helfen, der diese Engel sandte! Sie waren die ersten, die allerersten christlichen Missionare. Dank sei der ewigen Liebe, die ihr Evangelium durch diese, durch solche Boten sandte!"[2]

Ein zweites Mal werden die ersten beiden Zeilen des Gedichts in der Erinnerung des Ich-Erzählers zitiert:

Ich denke mich also wieder hin nach Kota Radscha, wo ich schon vorhin war, und höre den alten, ehrwürdigen malaiischen Priester zu John Raffley sagen:
"Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Lichte dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!"
Indem ich diese seine Worte zum zweiten Male niederschreibe, hier im Abendlande, im Westen, von wo aus er sich einen lieben Gruß ersehnt, bevor sein Geist im Morgenland zur Abendröte steigt, klingt aus der Kirche die Responsorie zu mir herüber: "Der Herr sei mit Euch!" singt der Pfarrer. "Und mit deinem Geiste!" antwortet die Gemeinde. Ja, wüßte dieser Geist den Weg von hier nach dort! Ich wollte ihn bitten, unsere Grüße dem Osten zuzutragen, heute, bald, so lange es noch am Tag des Schaffens ist! Ich wollte ihm sagen, daß auf den fernen Atjeh-Bergen ein liebes, klares Augenpaar allabendlich in die niedersteigende Sonne schaut, ob nicht ein kleines, goldumsäumtes Wölklein sich am Himmel zeige, um den Durst des Morgenlandes zu stillen, wie einst jenes lang ersehnte, handgroße aber dunkle Wölkchen des Elias auf dem Berge Karmel. Und ich wollte ihm alle, alle Liebe mitgeben, die ich in meinem Herzen für die Menschheit trage, damit alle dort Aufschauenden erfahren möchten, daß wir unsere Augen nicht vor ihnen niederzuschlagen haben. Aber nein; das ist ja doch nicht möglich! Warum? Die Grüße, welche wir ihnen senden, riechen nach Pulver. Aus den Wolken, die von uns zu ihnen gehen, brüllt der Donner der Geschütze. Und das ganze, große Reich der Liebe, welches wir bei ihnen gegründet zu haben behaupten, ist in – – – christliche "Interessen"-Sphären eingeteilt!
Wie begann doch gleich das Gedicht des alten Malaiien? "O komm, sei wieder Gast auf Erden, du gottgesandter Menschheitschrist!" Dieser Ruf der gelben Rasse blieb nicht unerhört: Der Christ ist gekommen, in kaukasischer Gestalt und Farbe. Hat er ihnen gebracht, was die Engel bei Christi Geburt der Menschheit verhießen? Den Frieden auf Erden? Damals kamen die Könige und Weisen des Morgenlandes, um den Erlöser Anbetung, Gold und Weihrauch darzubringen, freiwillig, unaufgefordert; es war ihnen nichts so köstlich, daß sie es ihm nicht gern geopfert hätten! Gegenwärtig aber gibt es Leute, welche behaupten: "Das war damals, vor zweitausend Jahren, als 'der Christ' noch in den Windeln und in der Krippe lag; da mußte man ihm Alles bringen. Jetzt aber ist er Mann geworden. Da wartet er nicht, bis man zu ihm kommt, sondern er geht, um selbst zu holen, was ihm gebührt: Gold, Gold, Gold! Und den Weihrauch? Auch den streut er sich dann selbst; das ganze Abendland duftet nach diesem ihm doch eigentlich ganz fremden Harze!"[3]

in Empor ins Reich der Edelmenschen!

In seinem letzten Vortrag Empor ins Reich der Edelmenschen!, den Karl May am 22. März 1912 in Wien hielt, zitierte er – laut Konzept unter Punkt 15 – dieses Gedicht:

Aber glauben wir ja nicht, daß die Sehnsucht nach Dschinnistan erst von heut ist! O nein! 1.) Heiden. Religion der Inder, Chinesen, der Inkas zeugen von großer Sehnsucht nach Edelmenschlichkeit. Gesetzgeber   H a m m u r a b i!   Wie das heutige Heidenthum hierüber denkt, lasse ich von einem malayischen Priester sagen in "Friede auf Erden".
"O komm, sei wieder Gast auf Erden!"[4]

aktuelle Ausgaben

Aktuelle Ausgaben der Reiseerzählung Und Friede auf Erden! sind in der Bücherdatenbank zu finden.

Anmerkungen

  1. Karl May: Und Friede auf Erden! In: Karl Mays Werke, S. 64504 (vgl. KMW-V.2, S. 388).
  2. Karl May: Und Friede auf Erden! In: Karl Mays Werke, S. 64497–64505 (vgl. KMW-V.2, S. 383–389).
  3. Karl May: Und Friede auf Erden! In: Karl Mays Werke, S. 64639–64641 (vgl. KMW-V.2, S. 494–496).
  4. Ekkehard Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation. In: Jb-KMG 1970, S. 47–80 (S. 59). (Onlinefassung)

Weblinks