Vergib! Ich war vom Antichrist betört! (Gedicht)

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Vergib! Ich war vom Antichrist betört! ist ein Gedicht von Karl May.

Text[Bearbeiten]

Vergib! Ich war vom Antichrist betört!
Er tat, als ob er unser Jesus sei!
Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört
und glaubte mich von allem Irrtum frei.
Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut,
sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit;
in deiner Stimme ward mein Engel laut,
der Engel unserer ganzen Christenheit – – –
Du gingst von mir – – ich war mit ihm allein,
mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt,
und darum konnte es nicht anders sein:
er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt.
O glaube mir, ich hab es nicht gedacht,
daß Christi Wege andere Wege sind;
der fromme Dünkel hat mich irr gemacht;
er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –
Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt,
die ich entfacht mit frevlerischer Hand.
Ich sehe, daß sich weinend zu mir neigt
der Engel, den du mir herabgesandt.
Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt.
Wie trauert doch dein liebes Angesicht!
Was tat ich doch! Was habe ich geglaubt!
Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?
Ich danke dir; ich danke dir wie sehr,
daß du mir nahst, du lichtes Himmelsbild.
O komme doch, o komme zu mir her,
und schau mich an wie früher, warm und mild.
Bring mir den Segen, den der Himmel gibt,
und sage doch, daß mir verziehen ist.
Lehr' so mich lieben, wie der Herr uns liebt – – –
Dann bin ich, was ich niemals war – – ein Christ![1]

Textgeschichte[Bearbeiten]

Das Gedicht findet sich in der Reiseerzählung Et in terra pax/Und Friede auf Erden! (1901/1904), die zu Karl Mays Spätwerk gehört. Es ist eins der Gedichte, die der Missionar Waller im Wahnsinn auf seinem Krankenbett spricht:

Es war halb zehn Uhr, als ich zu Tsi ging. Er befand sich in seinem Zimmer und sagte mir, er habe Mary mitgeteilt, daß ich wachen wolle, und sie sei damit dankbar einverstanden gewesen. Dann fuhr er fort:
"Ich hatte die Absicht, Ihnen eine ausführliche Erklärung des Krankheitszustandes zu geben, und dann wollte ich Ihnen für jeden in der Nacht möglichen Fall die betreffenden Verhaltungsmaßregeln vorschreiben; aber ich will doch lieber davon absehen, dies zu tun. Sie sollen Ihres heutigen Amtes in möglichster Unbefangenheit walten. Sie sollen diesen scheinbar Geisteskranken nicht von meinem Standpunkte, sondern von dem Ihrigen aus betrachten, und dann werden wir sehen, welche Differenzen sich zwischen beiden ergeben. Kommen Sie also! Ich führe Sie nach der Krankenstube!"
Er ging voran und öffnete die Tür. Das Zimmer war groß; der schöne Abendhauch hatte ungehindert Zutritt. Auf dem Tische brannte eine halb verhangene Lampe. Der Kranke lag unter einer leichten Decke lang ausgestreckt im Bette, an welchem Mary saß. Als sie mich sah, stand sie auf.
"Wie recht, daß Sie kommen!« sagte sie leise. »Sie werden ihn kaum wieder kennen; aber ich bin nicht mehr traurig, sondern froh, denn Herr Tsi hat mir versichert, daß Vater gerettet sei. Er kennt mich noch nicht, ist aber in den Zwischenräumen tiefer Apathie geistig ungemein beschäftigt. Womit, das werden Sie nicht erraten. Kommen Sie; nehmen Sie Platz!"
Tsi schob mir einen Stuhl an die Seite des ihrigen. Waller hatte allerdings ein fast leichenhaftes Aussehen. Das Gesicht war zum Erschrecken eingefallen. Ich sah das Skelett eines Kopfes vor mir, und die Hände bestanden auch nur bloß aus Knochen, um welche sich die Haut in lockeren Falten legte. Wir sprachen nicht. Es wäre mir schwer geworden, bei diesem Anblicke Worte zu machen.
Der leise, nicht unangenehme Duft des Ko-su erfüllte den Raum, so ähnlich, wie wenn Weihrauch durch die Halle einer Kirche getragen worden ist, und wie dieser Gott geweihte Ort an andere, höhere Welten mahnt, so zog auch hier das Ringen einer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schwebenden Menschenseele unser Denken und Empfinden nach der Grenze hin, an welcher Alles aufzuhören scheint, weil Alles dort beginnt. Seelenäußerungen, an dieser Grenze für die zurückliegende Erde in Menschenworte gekleidet, sollen dem, der diese Worte hört, nicht anders als nur heilig sein!
Es herrschte tiefe Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor:
"Ich sehe dich, und höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich's vergessen hatte."
Er hatte seine Stimme bei diesem letzten Satze in der Weise erhoben, wie man vor einem Doppelpunkte zu lesen pflegt, und fügte nun mit stark und voll niedersinkender Stimme hinzu:
  "Tragt Euer Evangelium hinaus,
  Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden."
Hier hielt er inne; das also hatte Mary gemeint, als sie sagte: "Womit, das werden Sie nicht erraten." Er bog nach diesen Worten den Kopf zur Seite, als ob er auf Etwas lausche, und sprach dann ebenso langsam und ebenso leise wie vorher weiter:
"Vergib! Ich war vom Antichrist betört! Er tat, als ob er unser Jesus sei! Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört und glaubte mich von allem Irrtum frei. Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut, sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit; in deiner Stimme ward mein Engel laut, der Engel unserer ganzen Christenheit – – –"
Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt.
"Er spricht mit Mama," flüsterte sie mir zu. "Er tat es schon vorhin."
Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halte suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter:
"Du gingst von mir – – ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andere Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irr gemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –"
Hier holte er zum erstenmal tiefer Atem, so daß man seine Brust sich bewegen sah. Seine Züge waren bisher während des Sprechens unverändert geblieben; nun wurden sie von dem Ausdrucke seelischer Pein bewegt, als er fortfuhr:
  "Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
  So stehe es für Euch im Völkerfrieden!"
Nach diesen Worten schlug er die hagern Hände zusammen, riß die Augen auf, starrte über sich empor und sprach, lauter und schneller als bisher:
"Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich entfacht mit frevlerischer Hand. Ich sehe, daß sich weinend zu mir neigt der Engel, den du mir herabgesandt. Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt. Wie trauert doch dein liebes Angesicht! Was tat ich doch! Was habe ich geglaubt! Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?"
Jetzt nahmen die scharfen Züge des Missionars einen freundlicheren Ausdruck an; die ängstlich verschlungenen Hände lösten sich, und es erklang in ruhigerem Tone aus seinem Munde:
"Ich danke dir; ich danke dir wie sehr, daß du mir nahst, du lichtes Himmelsbild. O komme doch, o komme zu mir her, und schau mich an wie früher, warm und mild. Bring mir den Segen, den der Himmel gibt, und sage doch, daß mir verziehen ist. Lehr' so mich lieben, wie der Herr uns liebt – – –"
Er hielt inne. Indem er tief, tief Atem holte, breitete sich ein schönes, glückliches Lächeln über sein Antlitz, und mit froh erhobener Stimme fügte er hinzu:
"Dann bin ich, was ich niemals war – – ein Christ!"
Hierauf schloß er die Augen, faltete die Hände auf der Brust und sprach nicht weiter. Er schien zu schlafen. Darum entfernten sich nun die beiden Andern, und ich blieb mit ihm allein.
Ich setzte mich hinaus auf die Veranda. Es war schön sternenhell. Nächtlich sich erschließende Blumen sandten mir ihre Düfte zu. Ringsumher lag tiefe Stille. Ich saß hier nur fünf Grade vom Aequator entfernt; wie weit von der Heimat und wie ihr so nahe! Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt. Irdische Orte können ihm, falls er dort Liebe findet, zu einem vorübergehenden Heime werden, doch nur für hier, nicht aber auch für dort. Oder doch vielleicht? Wo habe ich mir dieses Hier und wo jenes Dort zu denken? Sollte es trotz alledem möglich sein, daß der »sogenannte« Tod nicht die Macht besitzt, dem wirklichen Leben Grenzen zu setzen? Weder räumliche noch zeitliche? Hatte nicht soeben da drin im Zimmer Waller mit seiner Frau gesprochen? Ein Lebender mit einer Verstorbenen? Oder war das nicht Wirklichkeit, sondern nur Traum, nur Fieber, nur Wahnsinn?[2]

aktuelle Ausgaben[Bearbeiten]

Aktuelle Ausgaben der Reiseerzählung sind in der Bücherdatenbank zu finden:

Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. Karl May: Und Friede auf Erden! In: Karl Mays Werke, S. 64519–64521 (vgl. KMW-V.2, S. 400 f.); hier im Fließtext.
  2. Karl May: Und Friede auf Erden! In: Karl Mays Werke, S. 64516–64522 (vgl. KMW-V.2, S. 398–402).

Weblinks[Bearbeiten]