Die Meeresfee (Gedicht)

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Die Meeresfee ist ein Gedicht von Karl May.

Text[Bearbeiten]

Wo keiner Stimme Töne klangen,
  Am Grunde der krystallnen See,
Da liegt, vom Schlummer lind umfangen,
  Im Zauberschloß, des Meeres Fee.
Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben,
  Das über ihrem Reiche rauscht,
Wo, von Triton und Elf umgeben,
  Sie oft verborgen zugelauscht.
Doch endlich hat auch sie getrunken
  Des Lebens und der Liebe Gluth,
Und trägt in sich den Gottesfunken,
  Der im erwärmten Herzen ruht.[1]

Textgeschichte[Bearbeiten]

In Karl Mays Kolportageroman Der verlorne Sohn (18841886) ist das Gedicht in der 1. Abtheilung: Die Sclaven der Armuth im 2. Kapitel Das Opfer des Wüstlings zweimal zu finden. Zunächst dichtet es Robert Bertram für Judith Levi:

"Hadschi Omanah wären Sie? Gefunden hätte ich meinen Lieblingsdichter! Können Sie das beweisen?"
Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten, und ihr Busen hob und senkte sich unter dem Sturme der Gefühle, welche in diesem Augenblicke ihr Herz durch flutheten. Er hob das treue, ehrliche und doch so geistvolle Auge zu ihr und antwortete:
"Wie soll ich es Ihnen beweisen, wenn Sie es mir nicht glauben? Ich müßte Sie zu meinem Verleger führen, um es mir von ihm bestätigen zu lassen."
"Nein, das ist nicht nöthig! Ich will es wissen, ich muß es wissen, ob Sie der Geist sind, den ich bewundert habe und der es meiner Seele angethan hat. Und ich werde es erfahren, gleich jetzt, sofort! Hier liegt Papier, und hier ist Tinte und Feder. Soll ich Ihnen ein Sujet geben? Können Sie mir sofort ein Gedicht schreiben?"
Er blickte ihr selbstbewußt lächelnd in das erregte Gesicht und antwortete in seinem milden, freundlichen Tone:
"Versuchen Sie es, mein Fräulein!"
"Nun wohl! Ich werde Ihnen ein Sujet geben, ein Sujet, welches Ihren Eigenheiten, Ihrer wundervollen Sprache, Ihren funkelnden Reimen ganz angepaßt ist: Der Seesturm. Denken Sie sich die Fee des Meeres auf dem stillen, tiefen Meeresgrunde. Sie hat noch nie ein menschliches Gefühl im Herzen getragen, bis sie einst glückliche Menschenkinder belauschte. Da begann es auch in ihrem Herzen zu wogen und zu wallen; es gährte, spritzte, zischte, es donnerte und – wissen Sie, was ich meine?"
"Ja, Fräulein."
"So nehmen Sie hier Papier!"
"Das ist nicht nöthig. Ich werde extemporisiren."
"Bringen Sie das fertig?"
"Ich möchte Den, welcher nicht Herr der Sprache ist, auch niemals einen Dichter nennen!"
"Sie mögen Recht haben. Gut, beginnen Sie!"
Er blickte ihr einen Augenblick lang sinnend in die dunklen Augen und sagte dann:
"Fräulein, ich müßte Sie schildern. Sie haben der kalten, gefühllosen Meeresfee geglichen, bis ein Funken des Lichtes in Ihr Auge, in Ihr Herz gefallen ist. Hören Sie:
  Wo keiner Stimme Töne klangen [...]
Er wollte fortfahren, aber sie faßte seinen Arm und sagte:
"Halt! Sie sind Hadschi Omanah, ja, Sie sind es! Das ist seine Sprache; das ist sein Ausdruck und sein Reim. Herr, ich habe Sie schwer beleidigt, indem ich an Ihnen zweifelte; ich habe Sie um Verzeihung zu bitten!"[2]

Später rezitiert der schwer verletzte Robert Bertram die Verse im Gefängnis, während untersucht wird, ob er simuliert:

"Und der Schein! Und das Essen! O, Judith, ich hatte Hunger!"
"Das verstehe ich nicht," meinte der Arzt, zu dem Assessor gewendet.
"Sprechen Sie nur immer weiter mit ihm," antwortete dieser.
"Wem gehörte der Schein? Wer gab das Essen?"
"Wer?" fragte Robert langsam und wie abwesend.
"Ja. Und wer ist diese Judith?"
"Judith? Die Fee des Meeres."
Bei diesen letzten Worten schien ein Strahl von Selbstbewußtsein aus seinen Augen zu brechen. Er breitete die Arme aus, als ob er declamiren wolle und begann zu recitiren:
  "Wo keiner Stimme Töne klangen, [...]
Er hielt inne, wie um nachzudenken. Der Arzt schüttelte den Kopf und öffnete bereits die Lippen zu einer Bemerkung; da fuhr Robert fort:
  "Sie träumt von Liebe, träumt vom Leben, [...]
Wieder hielt er inne. Sein Auge war starr in die Ecke gerichtet.
"Ist das Simulation?" flüsterte der Assessor.
"Wenn das Simulation ist, so ist er ein Meister in der Verstellungskunst, Herr Untersuchungsrichter."
"Forschen Sie weiter! Ihnen scheint er zu antworten."
"Bertram, beantworten Sie mir –"
Der Arzt konnte den begonnenen Satz nicht vollenden, denn der Gefangene sprach weiter, und zwar in einem Tone, als ob er von einem schönen, wohlthätigen Traume befangen sei:
  "Doch endlich hat auch sie getrunken [...]
Er streckte den Arm aus, als ob er die Gestalt vor sich habe, von der er sprach, und seufzte:
"O Nacht, Nacht, meine Nacht!"
Aber nicht Judith, die Jüdin, sondern eine ganz Andere war seine "Nacht" gewesen. Sein irrer Sinn sprang sogleich zu der Letzteren über.[3]

Hedwig Pauler geht davon aus, dass May möglicherweise durch Emanuel Geibels Gedicht Der Mythos vom Dampf zu diesem Poem angeregt wurde. Bei Geibel heißt es:

Es ruht auf klarem Perlenthrone,
Die Meerfee im Krystallpalast [...][4]

1904 wurde dieses Gedicht von Adalbert Fischer in den Sammelband Sonnenstrahlen aus Karl Mays Volksromanen aufgenommen.

aktuelle Ausgaben[Bearbeiten]

Aktuelle Ausgaben des Romans Der verlorne Sohn sind in der Bücherdatenbank zu finden:

Anmerkungen[Bearbeiten]

  1. Karl May: Der verlorne Sohn. In: Karl Mays Werke, S. 19975 f. (vgl. KMW-II.19, S. 397 f.).
  2. Karl May: Der verlorne Sohn. In: Karl Mays Werke, S. 19829–19831 (vgl. KMW-II.19, S. 304–306).
  3. Karl May: Der verlorne Sohn. In: Karl Mays Werke, S. 19975 f. (vgl. KMW-II.19, S. 397 f.).
  4. Pauler: Deutscher Herzen Liederkranz, S. 228 f.

Literatur[Bearbeiten]

Weblinks[Bearbeiten]